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Kann sich die EU die neue Osterweiterung leisten?

Marie Sina
2. Mai 2024

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Osterweiterung der EU wieder an die Spitze der Brüsseler Agenda gerückt. Doch die Beitritte würden den EU-Haushalt belasten. Vor allem der der Ukraine.

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Polen | Bauernproteste in Warschau: Traktor mit polnischen Fahnen und Pamphleten geschmückt.
In vielen Teilen Polens haben Landwirte immer wieder gegen Getreideimporte aus der Ukraine demonstriertBild: Sergei Gapon/AFP/Getty Images

"Keine Bauern mehr, kein Brot mehr" war ein beliebter Slogan während der zahllosen Straßenblockaden, die Bauern im vergangenen Winter in Polen organisierten. Sie wollten verhindern, dass billiges ukrainisches Getreide ins Land gelangt.

Die Landwirte befürchten, dass der EU-Beitritt des östlichen Nachbarn Polens ihre Existenz bedrohen könnte. "Sie müssen es vergessen. Das ist eine verrückte Idee", sagte einer der protestierenden Bauern während der Blockade im Gespräch mit der DW.

Mehr als ein Jahrzehnt lang schien die Europäische Union ein geschlossener Club zu sein, vor dem Länder - vor allem auf dem Westbalkan - Schlange standen, um aufgenommen zu werden. Doch mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat sich das grundlegend geändert. Im Dezember nahm die EU Beitrittsgespräche mit der Ukraine und der Republik Moldau auf und gewährte Georgien den Kandidatenstatus.

Politisches Anliegen stößt auf Haushaltszwänge

"Aus offensichtlichen Gründen betrachtet die EU die Erweiterung jetzt als Sicherheitsinstrument", sagt Thu Nguyen, stellvertretende Direktorin der unabhängigen Denkfabrik Jacques Delors Centre in Berlin, im Gespräch mit der DW. "Aber der EU-Haushalt ist Teil der Diskussionen, nur muss es nicht unbedingt der entscheidende Faktor sein."

Die jüngsten Proteste in Polen erinnern jedoch daran, dass die Wirtschaft ein unumstößlicher Teil des politischen Antriebes der EU ist. Im Haushalt der EU sind regionale Entwicklung und Landwirtschaft die größten Posten.

Wirtschaftsaufschwung durch EU-Osterweiterung

Darum geht Brüssels neuer Expansionseifer mit der Befürchtung einher, dass die Erweiterung für einige EU-Mitglieder und -Bürger wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen könnte. Denn die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten bekommen mehr Geld aus den EU-Töpfen, als sie einzahlen. Die acht Länder, die derzeit für den Beitritt in Frage kommen, sind jedoch allesamt ärmer als die derzeitigen Mitgliedstaaten. Dies gilt auch für die Türkei, deren Beitrittsprozess seit 2018 ausgesetzt ist.

Hoffnung auf wirtschaftliche Besserung

Jasna Pejovic aus Montenegro glaubt, ihrem Staat würde die EU-Mitgliedschaft "mehr Legitimität" verleihen. Montenegro ist das Land, das in der Warteschlange für den EU-Beitritt am weitesten vorne liegt; und 80 Prozent seiner Bevölkerung sind für den Beitritt.

Im Büro ihres E-Learning-Startups "Flourish" in der Hauptstadt Podgorica sagt Jasna der DW, es wäre ein Gütesiegel für ihr Unternehmen, wenn sie EU-Bürgerin wäre: "Investoren sagen: 'Wir haben nie Geschäfte mit Montenegro gemacht, und wir wissen nicht, wie wir das machen sollen.' Ich fragte sie: 'Wäre das anders, wenn wir Teil der Europäischen Union wären?' Und sie sagen: 'Ja, es wäre anders.' Weil sie über die Europäische Union Bescheid wissen."

Mit nur 630.000 Einwohnern ist Montenegro ein kleines Land wie viele andere auf dem Westbalkan. Sein Beitritt wäre keine große Belastung für den EU-Haushalt, sagt Nathalie Tocci, die bereits zwei ehemalige EU-Außenbeauftragte beraten hat. "Wenn die EU morgen früh Montenegro aufnehmen und dafür bezahlen würde: Niemand würde es bemerken." Andererseits habe die EU auch keinen wirtschaftlichen Vorteil davon.

Auch Mila Kasalica, Ökonomin und Finanzchefin der Gemeinde Zeta in Montenegro, glaubt, dass die EU-Mitgliedschaft ihrem Land einen Wandel bescheren würde: "Wir haben etwa 45 bis 48 Prozent des Lebensstandards der EU-Länder. Das ist der große Traum im Beitrittsprozess: eine reale Annäherung an den Lebensstandard der EU."

Die Aufnahme der fünf Beitrittskandidaten auf dem westlichen Balkan würde Millionen von Menschen wirtschaftliche Chancen eröffnen, und das zu überschaubaren Kosten für die EU. Doch vier von ihnen haben diesen Status bereits seit mehr als einem Jahrzehnt.

Die Ukraine - der Elefant im Raum

Vor weitaus kürzerer Zeit ist ein neuer Kandidat für den EU-Beitritt am östlichen Horizont aufgetaucht: die Ukraine. Unter dem Druck der russischen Invasion im Februar 2022 erhielt sie innerhalb desselben Jahres den Kandidatenstatus.

Aber der Beitritt des bevölkerungsreichsten - und ärmsten - aller Kandidatenländer wäre eine ganz andere Hausnummer, sagt Politikberaterin Tocci, "wegen seiner Größe, wegen seines Agrarsektors, wegen seines durchschnittlichen Wohlstands und vor allem, weil es ein Land ist, das sich im Krieg befindet und bereits mit 500 Milliarden US-Dollar (rund 470 Mrd. Euro, d.R.) für den Wiederaufbau kalkuliert." Sollte die Ukraine der EU beitreten, würde sie die EU-Finanzen mit Abstand am meisten belasten.

Infografik Führende Weizenproduzenten weltweit 2021/2022: 1. Platz: EU 138.900 Tonnen, 7. Platz Ukraine: 33.000 Tonnen
Ukraine produzierte vor der russischen Invasion fast 25 Prozent so viel Weizen wie die gesamte EU

Außerdem wäre sie der größte Agrarproduzent des Wirtschaftsraums. Die Fläche des Ackerlandes der Ukraine beträgt mehr als 25 Prozent der Ackerfläche aller EU-Länder zusammen. Für die Landwirte in den derzeitigen Mitgliedstaaten würde dies einen unerwünschten Wettbewerb im Binnenmarkt bedeuten.

Polen zum Beispiel hat sich seit seinem Beitritt im Jahr 2004 zu einem der wettbewerbsfähigsten Lebensmittelproduzenten der EU entwickelt. Doch der industriellen Landwirtschaft der Ukraine mit weit niedrigeren Lohnkosten wären die polnischen Betriebe wohl kaum gewachsen, sagt Lukasz Czech, ein polnischer Getreide- und Schweinebauer aus Parczew, der einen Teil seines Einkommens aus EU-Subventionen bezieht: "Wir würden höchstwahrscheinlich bankrottgehen. Denn unsere Märkte würden leicht mit den viel billigeren Produkten aus der Ukraine überschwemmt werden."

Ukraine-Beitritt könnte Loch in den EU-Haushalt reißen

Laut einer internen Untersuchung des Europäischen Rates würde die Zulassung aller Beitrittskandidaten die EU 256 Milliarden Euro kosten, wobei allein die Ukraine über einen Zeitraum von sieben Jahren schätzungsweise 186 Milliarden Euro erhalten würde - die Wiederaufbaukosten nicht eingerechnet.

Kämpfe und Zerstörung in Bachmut, Ukraine: Ein brennendes Hochhaus in einem zerbombten Stadtteil
Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser und Teile der Infrastruktur sind in der Ukraine sind durch russische Angriffe zerstört Bild: UKRAINIAN ARMED FORCES/REUTERS

Thu Nguyen glaubt, dass "die finanziellen Auswirkungen nicht so hoch wären, wie einige der Zahlen vermuten lassen." Woher das zusätzliche Geld kommen soll, kann Thu Nguyen allerdings auch nicht genau sagen: "Es ist möglich, dass es aus den jetzigen Mitgliedstaaten kommt. Es ist möglich, dass die EU sich eigenes Geld aus neuen Quellen beschafft. Es gibt zum Beispiel Diskussionen über eine Plastiksteuer oder CO2-Anpassungsmechanismen."

Einige EU-Mitgliedstaaten treiben den Beitrittsprozess in einem noch nie dagewesenen Tempo voran. Ob ihnen das gelingt, hängt jedoch von der künftigen Zusammensetzung des neuen EU-Parlaments ab, das im Juni gewählt wird.